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Der betrunkene Russe

 

Es gibt Dinge, deren man sich nicht rühmt, die lächerlich wirken, wenn man davon spricht, und die dennoch einen gewissen Heroismus erfordern.

Maigret hatte nicht geschlafen. Von halb sechs bis acht Uhr war er in zugigen Abteilen durchgerüttelt worden.

Schon in La Bréauté war er durchnäßt gewesen. Jetzt schwappte bei jedem Schritt schmutziges Wasser aus seinen Schuhen, sein Hut war deformiert, Mantel und Jacke waren klitschnaß.

Der Wind schlug ihm den Regen wie Ohrfeigen ums Gesicht. Die schmale Straße lag verlassen. Es war nur ein abschüssiger Pfad zwischen den Gartenmauern. In seiner Mitte strömte das Wasser bergab.

Er blieb einen Augenblick stehen. Selbst seine Pfeife in der Tasche war feucht. Keinerlei Möglichkeit, sich in der Nähe der Villa zu verstecken. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich, so gut es ging, an eine Mauer zu drücken und zu warten.

Wenn Leute vorbeikamen, würden sie ihn sehen, sich nach ihm umdrehen. Vielleicht mußte er stundenlang dort ausharren. Es gab keinen ausdrücklichen Beweis dafür, daß ein Mann in dem Haus war. Und wenn sich da einer aufhielt, würde er das Bedürfnis haben, auszugehen?

Trotzdem drängte sich Maigret mürrisch hinter einen leichten Vorsprung der Mauer und stopfte seine nasse Pfeife.

Das war nicht ganz der richtige Platz für einen Beamten der Kriminalpolizei. Bestenfalls eine Aufgabe für einen Anfänger. Zwischen zwanzig und dreißig hatte er so hundertmal auf der Lauer gelegen.

Er hatte alle Mühe, ein Streichholz anzuzünden. Die Reibfläche der Schachtel löste sich auf. Und vielleicht wäre er weggegangen, wenn nicht doch noch wie durch ein Wunder eines der Zündhölzer aufgeflammt wäre.

Von seinem Standort aus sah er nichts als eine niedrige Mauer und das grüngestrichene Gartentor der Villa. Mit den Füßen stand er in Brombeersträuchern. In seinem Nacken zog es kalt.

Fécamp lag unterhalb von ihm, aber er konnte die Stadt nicht sehen. Er hörte nur das Rauschen des Meeres und hin und wieder eine heulende Sirene oder ein vorbeifahrendes Auto.

Seit einer halben Stunde hatte er seinen Posten bezogen, als eine Frau, die wie eine Köchin aussah, mit einem Einkaufskorb den steilen Pfad heraufstieg. Sie bemerkte Maigret erst, als sie an ihm vorbeiging. Seine massige Gestalt, die da reglos an der Mauer eines Weges lehnte, über den der Wind hinwegfegte, erschreckte sie dermaßen, daß sie zu laufen begann.

Sicher arbeitete sie in einer der Villen oben an der Steilküste. Ein paar Minuten später tauchte an der Wegbiegung ein Mann auf, beobachtete Maigret von weitem, eine Frau trat hinzu, dann gingen beide nach Hause zurück.

Die Situation war einfach lächerlich. Der Kommissar wußte, daß die Chancen, auf seinem Posten etwas auszurichten, zehn zu hundert standen.

Dennoch harrte er aus, weil er ein unbestimmtes Gefühl hatte, das er noch nicht einmal als Vorahnung hätte bezeichnen können. Es war vielmehr eine seiner Theorien, die er übrigens nie weiterentwickelt hatte und die auch in seiner Vorstellung unscharf blieb. Für sich nannte er sie die Theorie vom Riß.

In jedem Missetäter, in jedem Banditen steckt ein Mensch, aber auch und vor allem ein Spieler, ein Gegner, und auf ihn hat es die Polizei abgesehen, er ist es, den sie im allgemeinen bekämpft.

Ist ein Verbrechen begangen worden oder nur irgendein Delikt? Der Kampf gilt den mehr oder weniger objektiven Gegebenheiten. Dem Problem mit einer oder mehreren Unbekannten, das der Verstand zu lösen versucht.

Maigret verfuhr wie die anderen auch. Und wie sie bediente er sich ungewöhnlicher Hilfsmittel, die einen Bertillon, einen Reiss oder Locard in die Hände der Polizei lieferten und die eine Wissenschaft für sich darstellten.

Aber er suchte, erwartete, belauerte vor allem den Riß. Mit anderen Worten: den Augenblick, in dem hinter dem Spieler der Mensch zum Vorschein kommt.

Im Majestic hatte er den Spieler vor sich gehabt.

Hier ahnte er etwas anderes. Die friedliche und ordentliche Villa war nicht Bestandteil des Kampfes, in den Pietr, der Lette, verwickelt war. Diese Frau vor allen Dingen, diese Kinder, die er gesehen oder gehört hatte, zählten zu einer anderen materiellen und moralischen Ordnung.

Und deswegen wartete er, schlechtgelaunt im übrigen, denn Maigret liebte seinen dicken gußeisernen Ofen, sein Büro mit den schäumenden Biergläsern auf dem Tisch zu sehr, um nicht in diesem scheußlichen Unwetter unglücklich zu sein.

Als er seinen Beobachtungsposten bezogen hatte, war es kurz nach zehn gewesen. Um halb eins endlich knirschten Schritte auf dem Kiesweg, wurde das Gartentor mit schnellen, genauen Bewegungen geöffnet, und eine Gestalt zeichnete sich zehn Meter von dem Kommissar entfernt ab.

Das Gelände erlaubte ihm nicht, zurückzuweichen. So blieb er unbeweglich, ja, wie erstarrt stehen; seine durchnäßte Hose hing in langen Bahnen an ihm herab.

Der Mann, der aus der Villa herauskam, trug einen schäbigen Trenchcoat, dessen abgenutzten Kragen er hochgeschlagen hatte. Auf dem Kopf hatte er eine graue Mütze.

Diese Kleidung ließ ihn sehr jung erscheinen. Die Hände in den Taschen, die Schultern wegen des plötzlichen Temperaturwechsels fröstelnd hochgezogen, ging er den Hang hinunter.

Er mußte einen Meter neben dem Kommissar vorbeikommen. Diesen Augenblick wählte er, um seinen Schritt zu verlangsamen, ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche zu ziehen und sich eine anzustecken.

Er schien absichtlich sein Gesicht in vollem Licht zu zeigen und dem Polizisten Gelegenheit zu geben, es genau zu betrachten.

Maigret ließ ihn ein Stück weitergehen, dann folgte er ihm mit gerunzelter Stirn. Seine Pfeife war ausgegangen. Seine ganze Person drückte Mißmut aus, aber auch den brennenden Wunsch, zu begreifen.

Denn der Mann im Trenchcoat glich dem Letten und glich ihm wieder nicht. Die gleiche Größe: etwa ein Meter achtundsechzig. Auch das gleiche Alter war ihm gerade noch zuzubilligen, obwohl er in dieser Kleidung eher sechsundzwanzig als zweiunddreißig Jahre alt wirkte.

Nichts sprach dagegen, daß auf ihn die Personenbeschreibung zutraf, die Maigret auswendig wußte und deren Text er in der Tasche hatte.

Und dennoch war es ein anderer Mann. Seine Augen zum Beispiel hatten einen weicheren, sehnsüchtigen Ausdruck. Ihr Grau war heller, als habe der Regen sie ausgewaschen.

Er trug nicht den kleinen zahnbürstenförmigen Schnurrbart. Aber das war es nicht allein, was ihn veränderte.

Noch andere Einzelheiten überraschten Maigret. Seine Haltung erinnerte in nichts an die eines Offiziers der Handelsmarine. Sie paßte nicht einmal in den Rahmen dieser Villa mit dem bürgerlichen, wohlhabenden Leben, das sie ausstrahlte.

Die Schuhe waren abgenutzt, die Absätze schiefgelaufen. Als der Mann wegen dem Matsch seine Hosenbeine aufkrempelte, erblickte der Kommissar graue Baumwollsocken, die verwaschen und grob gestopft waren.

Auf dem Trenchcoat bemerkte er unzählige Flecken. Das Gesamtbild entsprach einem Typus, den Maigret recht gut kannte, dem des europäischen Vagabunden, der fast immer aus dem Osten kommt, in den schlechtesten Absteigen von Paris übernachtet, zuweilen auf Bahnhöfen schläft, sich selten in die Provinz traut, dritter Klasse reist oder heimlich auf Trittbrettern oder in Güterzügen mitfährt.

Wenig später hatte er den Beweis. In Fécamp gab es keine ausgesprochenen Spelunken, aber hinter dem Hafen zwei oder drei heruntergekommene Bistros, die eher von Kohlentrimmern als von Fischern besucht wurden.

Zehn Meter von diesen Lokalen entfernt befand sich ein ordentliches, sauberes und freundliches Café.

Doch der Mann im Trenchcoat ging daran vorbei, steuerte zielbewußt auf das verdächtigste der Bistros zu und stellte sich mit einer Geste an den Tresen, die für Maigret keinen Zweifel offenließ.

Es war eine vertrauliche, einfache und pöbelhafte Geste, die der Kommissar beim besten Willen nicht hätte nachahmen können.

Auch er betrat das Lokal. Der Mann hatte einen Absinth-Ersatz bestellt und stand da, ohne etwas zu sagen, gleichgültig und mit leerem Blick neben Maigret.

Unter dem halbgeöffneten Mantel gewahrte der Kriminalbeamte nicht sehr einwandfreie Wäsche. Und auch das war unnachahmbar! Das Hemd, der abgeschabte Kragen waren tage- oder vielmehr wochenlang getragen worden. Er hatte darin wer weiß wo geschlafen. Er hatte darin geschwitzt. Regen war gefallen.

Der Anzug war nicht unelegant, aber er zeigte die gleichen Merkmale, kündete gleichermaßen von einem liederlichen Landstreicherleben.

»Noch einen!«

Das Glas war leer. Der Wirt füllte es wieder. Maigret servierte er einen gestreckten Pernod.

»Nun, mal wieder im Lande?«

Der Mann antwortete nicht, kippte den Aperitif herunter, wie er den ersten heruntergekippt hatte, schob das Glas auf den Schanktisch zurück und gab ein Zeichen, es noch einmal zu füllen.

»Wollen Sie etwas essen? … Ich habe eingelegte Heringe …«

Maigret war auf einen kleinen Ofen zugesteuert, dem er seinen wie ein Regenschirm glänzenden Rücken zukehrte. Der Wirt gab nicht auf. Mit einem Seitenblick auf den Kommissar wandte er sich erneut dem Gast im Trenchcoat zu:

»Übrigens, letzte Woche hatte ich einen Landsmann von Ihnen hier … Einen Russen aus Archangelsk … Er hatte auf einem schwedischen Dreimaster angeheuert, der wegen des Sturms im Hafen vor Anker gehen mußte … Er hatte kaum Zeit, sich zu betrinken, sag ich Ihnen! … Sie hatten höllisch zu tun … Die Segel zerrissen, zwei Rahen gebrochen und der ganze Krempel …«

Der andere, der nun bei seinem vierten Absinth war, hielt sich ans Trinken. Der Wirt füllte das Glas, sobald es leer war, und jedesmal warf er dabei Maigret einen komplizenhaften Blick zu.

»Der Käpten Swaan ist übrigens nicht wieder aufgekreuzt, seit ich Sie zum letzten Mal gesehen habe …«

Der Kommissar fuhr zusammen. Der Mann im Trenchcoat, der sein fünftes Glas ohne Wasser hinuntergekippt hatte, wankte zum Ofen, stieß gegen Maigret und streckte seine Hände nach der Wärme aus.

»Geben Sie mir ruhig einen Hering …«, sagte er.

Er sprach mit ziemlich starkem Akzent, mit russischem Akzent, soweit Maigret das beurteilen konnte.

Sie standen da, nebeneinander, sozusagen gegeneinander. Wiederholt fuhr sich der Mann mit der Hand durchs Gesicht, und sein Blick wurde immer trüber.

»Mein Glas? …« stieß er hervor.

Man mußte es ihm in die Hand drücken. Während er trank, starrte er Maigret an und verzog angewidert den Mund.

An diesem Gesichtsausdruck gab es keinen Zweifel. Überdies warf er das Glas auf den Boden, als wolle er damit sein Gefühl noch bekräftigen, hielt sich an der Lehne eines Stuhls fest und brummelte etwas in einer fremden Sprache vor sich hin.

Ein wenig beunruhigt ging der Wirt beiläufig an Maigret vorbei und flüsterte ihm zu, aber so, daß der Russe jedes Wort verstehen konnte:

»Beachten Sie ihn nicht! Er ist immer so …«

Der Mann lachte unartikuliert. Er ließ sich auf den Stuhl fallen, stützte den Kopf in die Hände und blieb unbeweglich sitzen, bis man ihm zwischen den Ellbogen hindurch einen Teller mit einem marinierten Hering auf den Tisch schob.

Der Wirt rüttelte ihn an der Schulter.

»Essen Sie! … Das wird Ihnen guttun …«

Der andere lachte noch einmal. Es war eher ein bitteres Husten. Er drehte sich um, suchte nach Maigret, musterte ihn unverfroren und stieß den Heringsteller vom Tisch.

»Was zu trinken!«

Der Wirt hob die Arme zur Decke und brummte wie zur Entschuldigung:

»Diese Russen! So sind sie eben …«

Und er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. Maigret hatte seine Melone in den Nacken geschoben. Seine Kleidung dünstete graue Feuchtigkeit aus. Er war bei seinem zweiten Pernod.

»Geben Sie mir auch einen Hering!« sagte er.

Er war gerade dabei, ihn mit einem Stück Brot zu verzehren, als sich der Russe mit weichen Knien erhob, sich umschaute, als wisse er nicht, was er tun sollte, und zum drittenmal auflachte, während er Maigret nachdenklich betrachtete.

Dann landete er vor dem Tresen, nahm ein Glas aus dem Regal und zog eine Flasche aus dem Zinkbecken, wo sie zum Kühlen in kaltem Wasser stand.

Er schenkte sich selbst ein, ohne hinzuschauen, und trank mit einem schmatzenden Geräusch.

Schließlich zog er einen Hundert-Franc-Schein aus der Tasche. »Reicht das, Schurke?« fragte er.

Er warf den Schein in die Luft. Der Wirt mußte ihn aus dem Ausguß herausfischen.

Der Russe rüttelte an der Türklinke, die nicht nachgeben wollte. Es hätte beinahe Streit gegeben, weil der Wirt seinem Gast helfen wollte, der ihn jedoch mit den Ellbogen zurückstieß.

Der Trenchcoat verschwand am Ende auf dem Quai in Richtung Bahnhof im Nebel und Regen.

»Das ist eine Marke!« seufzte der Wirt, zu Maigret gewandt, der seine Rechnung bezahlte.

»Kommt er oft?«

»Hin und wieder … Einmal hat er die Nacht hier verbracht, auf der Bank, auf der Sie gesessen haben … Er ist Russe … Russische Matrosen, die einmal zur selben Zeit hier waren wie er, haben es mir gesagt … Er scheint eine gute Ausbildung bekommen zu haben … Haben Sie seine Hände gesehen? …«

»Finden Sie nicht, daß er Käpten Swaan ähnelt?«

»Ah, Sie kennen ihn … Natürlich! … Zwar nicht so, daß man sie verwechseln könnte … Aber immerhin! … Ich habe lange geglaubt, er wäre sein Bruder …«

 

Die beige Gestalt verschwand um eine Ecke. Maigret ging schneller.

Er erreichte den Russen, als dieser den Wartesaal dritter Klasse betrat, sich auf eine Bank fallen ließ und den Kopf wieder in beide Hände stützte.

Eine Stunde später saßen sie im selben Abteil in Gesellschaft eines Viehhändlers aus Yvetot, der Maigret hübsche Geschichten in normannischem Dialekt erzählte und ihn von Zeit zu Zeit mit dem Ellbogen anstieß, um seine Aufmerksamkeit auf ihren Nachbarn zu lenken.

Der Russe sank langsam in sich zusammen und war zuletzt auf der Holzbank ganz zusammengesackt; der bleiche Kopf war auf die Brust gesunken, der halb geöffnete Mund stank nach Alkohol.

Maigret und Pietr der Lette
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